Press "Enter" to skip to content

Servant Leadership: Dienen hat Vorrang

Nach 27 Jahren oder 10.052 Tagen im Gefängnis wurde Nelson Mandela am 11. Februar 1990 entlassen. Mandela verließ das Victor-Verster-Gefängnis in Paarl um 16:15 Uhr. Es war ein heißer Sonntagnachmittag.

Wenig später er im Zentrum von Kapstadt eine Rede. Darin machte er deutlich, wie er seine Führungsrolle anlegen würde:

„I stand here before you not as a prophet but as a humble servant of you, the people. Your tireless and heroic sacrifices have made it possible for me to be here today. I therefore place the remaining years of my life in your hands.“

Nelson Mandela, 11. Februar 1990, Aufzeichnung der Rede auf YouTube

Mandelas Verständnis von Führung ist ein herausragendes Beispiel für Servant Leadership. Den Ansatz hat Robert K. Greenleaf erdacht. In seinem bahnbrechenden Essay „The Servant as Leader“ von 1970 schreibt Greenleaf:

„The servant-leader is servant first (…). It begins with the natural feeling that one wants to serve, to serve first. Then conscious choice brings on to aspire to lead.“

Robert K. Greenleaf, 2002, Servant Leadership, 25th Anniversary Edition, S. 27

Im Unterschied zu einer Person, die in erster Linie führen möchte, stelle ein Servant Leader sicher, dass die Bedürfnisse anderer Menschen mit höchster Priorität erfüllt werden, so Greenleaf. Mandela, dessen Führungsansatz in der südafrikanischen Lebensphilosophie Ubuntu verwurzelt war, ging es folglich nicht um Macht, sondern um das Wohl seiner Landsleute.

„Dienende Führung ist kein Konzept, keine Methode, keine Technik, sondern eine Lebenshaltung“, schreibt Leonhard J. Schnorrenberg (Servant Leadership, 2014, S. 32). Sie sei wie das Leben selbst, „ein in der Essenz persönlicher geistiger Reifeprozess“.


Inspiration durch Herrmann Hesse

Die Idee zu Servant Leadership kam Robert K. Greenleaf bei der Lektüre des Erzählung „Die Morgenlandfahrt“ von Hermann Hesse aus dem Jahr 1932. Die Erzählung begleitet den Protagonisten H. H. auf einer fiktiven Reise des „Bundes vom Hohlen Stuhl“.

Die zentrale Person ist der Diener und Lastenträger Leo, den Hesse in seinem Werk das Gesetz vom Dienen formulieren lässt:

„Was lange leben will, muß dienen. Was aber herrschen will, das lebt nicht lange.“

Hermann Hesse, Die Morgenlandfahrt, Suhrkamp Taschenbuch, 20. Auflage 2021, S. 34

Als Leo in der Schlucht von Morbio Inferiore verschwindet, scheitert das ganze Unternehmen. Letztendlich wird offenbar, dass der Diener der eigentliche Führer war.

Die Erzählung „Die Morgenlandfahrt“ von Hermann Hesse inspirierte Robert K. Greenleaf zur Entwicklung von Servant Leadership (Bild: Shutterstock, Suhrkamp)

Die Lektüre der Erzählung führte Robert K. Greenleaf zur Einsicht, dass große Führungspersönlichkeiten in erster Linie dienen. Im Jahr seiner Pensionierung, 1964, gründete er das Greenleaf Center for Servant Leadership. Die Organisation in South Orange, NJ ist bis heute die erste Adresse für die Weiterentwicklung des Ansatzes.

Davor war Greenleaf 38 Jahre lange für AT&T tätig. Dort arbeitete er in den 1950er-Jahren mit dem Management-Vordenker Peter Drucker zusammen. Für Drucker, der seine Wort stets mit Bedacht wählte, war Greenleaf „the wisest man I ever met.“ (Joe Iarocci, LinkedIn, 16. November 2015)

Dass Greenleaf auf Hesse stieß, war übrigens kein Zufall. Denn die Bücher von Hermann Hesse verkauften sich in den USA in den 1950er-Jahren bis Mitte der 1970er-Jahre millionenfach.

Hesse war damals in den USA ungemein populär: Die Band Steppenwolf, die nach Hesses gleichnamigen Roman von 1927 benannt ist, hatte mit „Born to Be Wild“ 1968 einen Welthit, das Album „Abraxas“ von Santana (1970) ist von „Demian“ inspiriert.

1984 schuf Andy Warhol ein Poster mit dem Konterfei von Hermann Hesse – dadurch wurde der Literaturnobelpreisträger von 1946 zu einer Ikone der Popkultur.


Schicksalshafte Begegnung am Monte Verità

Die Wahlheimat von Hermann Hesse (1877-1962) war das Tessin. Der Literaturnobelpreisträger hat zwischen dem Jahr 1919 und seinem Tod im Jahr 1962 mehr als 40 Jahre seines Lebens verbracht. Hier sind seine Schlüsselwerke wie „Siddhartha“ (1922), „Der Steppenwolf“ (1927), „Narziss und Goldmund“ (1930) und „Das Glasperlenspiel“ (1943) entstanden.

Hesse war bereits 1907 das erste Mal im Tessin. Bei einem Kuraufenthalt in Locarno lernte er das Nachbarstädtchen Ascona kennen und kam mit der Landkommune auf dem Monte Verità in Kontakt. Auf dem 322 m hohen Hügel bei Ascona ist seit dem Jahr 1900 zu einem Treffpunkt für Lebensreformer, Pazifisten, Künstler, Schriftsteller sowie Anhänger unterschiedlicher alternativer Bewegungen geworden.

Ascona am Lago Maggiore (Bild: Shutterstock.com)

Besonders beeindruckt war Hesse von der Begegnung mit Gusto Gräser, der die Kommune im Jahr 1900 mitbegründet hatte. Gräser war, was man heute wohl als Guru bezeichnen würde. Er war mit einer Tunika bekleidet und hatte einen langen Wanderstab bei sich. Zeitzeugen berichten, dass die Kinder in Ascona niederknieten wenn Gräser in den Ort kam, weil sie glaubten, der Heiland wäre ihnen erschienen.

Hesse, der damals in einer Lebenskrise war, war von Gräser fasziniert und freundete sich mit ihm an. Im Frühjahr 1907 verbrachten die beiden gemeinsam ein paar Wochen in Gräsers Einsiedelei, der Pagangrott von Arcegno, in der Nähe des Monte Verità.

Nach seiner Rückkehr aus Ascona versuchte sich Hesse aber wieder dem bürgerlichen Leben anzupassen. Er wandte sich zunehmend von Gräser ab. Erst im September 1916 finden die beiden wieder zueinander.

In der Morgenlandfahrt verarbeitete Hesse diese Abkehr von Gräser und setzt ihm ein Denkmal. Die zentrale Figur des Dieners Leo ist Gusto Gräser nachempfunden.


Definition von Servant Leadership

In der traditionellen Führung steht die Frage im Mittelpunkt? Was muss ich machen, dass meine Mitarbeiter*innen das tun, was ich von ihnen will? Servant Leadership stellt praktisch ein Paradigmenwechsel dar. Die Frage lautet nun: Was kann ich für meine Mitarbeitenden tun, damit sie sich persönlich weiterentwickeln und so gemeinschaftliche Ziele erfolgreich realisiert werden können?

Robert Stewart definiert Servant Leadership wie folgt:

Ein Servant Leader möchte die Menschen unter seiner Führung ermutigen und befähigen, ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Der Zweck von Servant Leadership besteht darin, jedes Teammitglied dazu zu ermächtigen, anderen zu helfen, anstatt persönliche Anerkennung zu suchen.

Robert Stewart, 2022, Servant Leadership, Kindle Edition, S. 22

Die zehn Eigenschaften eines Servant Leaders

Nach dem Tod von Robert Greenleaf im Jahr 1990 wurde Larry Spears zum Direktor des Greenleaf Center for Servant Leadership ernannt. Basierend auf Greenleafs Gedanken hat Spears zehn Eigenschaften erarbeitet, die für die Entwicklung eines Servant Leaders zentral sind.

Schnorrenberg (2014, S. 42) weist daraufhin, dass diese zehn Eigenschaften nicht als fest umrissene Verhaltensrichtlinie angesehen werden dürfen. Vielmehr sollten wir uns die Frage stellen, welche dieser Kernelemente zur persönlichen Weiterentwicklung beitragen können.

Die zehn Eigenschafen eines Servant Leaders (Quelle: Larry Spears, eigene Bearbeitung)

1. Zuhören

Der griechische Philosoph Epiktet meinte: „Der Mensch hat zwei Ohren und einen Mund, damit er doppelt so viel hören kann, wie er spricht.“ Servant Leader hören aufmerksam und vorurteilsfrei zu, was ihre Mitarbeiter*innen zu sagen haben.

2. Empathie

Die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel. Servant Leader können in die Rolle ihrer Mitarbeiter*innen schlüpfen. Es gelingt ihnen dadurch, ihre Gefühle und Sorgen zu verstehen. Gleichzeitig vermitteln sie das Gefühl, dass sie sich um ihre Anliegen kümmern.

3. Heilung

Servant Leader tragen dafür Sorge, dass die Beziehungen im Team eine hohe Qualität aufweisen. Heilung heißt, eine Atmosphäre zu schaffen, in der Menschen ihre Probleme und Differenzen ansprechen und Lösungen finden können.

4. (Selbst-)Bewusstsein

Servant Leader haben einen Spiegel, in dem sie sich selbst sehen. Sie kennen ihre Stärken und Schwächen und wissen, wie ihr Verhalten andere beeinflusst. Was geht in mir vor? Was tue ich? Warum tue ich es? Wie erfahren mich die anderen?

5. Überzeugungskraft

Ein Servant Leader überzeugt andere nicht durch Macht und Status, sondern durch Vorbild und Glaubwürdigkeit. Macht droht mit Konsequenzen und schürt Angst. Dienende Führungskräfte hingegen genießen das Vertrauen ihrer Belegschaft – in ihre Kompetenzen und in ihren Charakter.

6. Konzeptualisierung

Servant Leader fördern ihre eigene Fähigkeit, groß zu träumen. Es geht nicht um die Erreichung kurzfristiger operativer Ziele, sondern um Visionen. Dienende Führungskräfte beantworten gekonnt die Frage nach dem Brand Purpose („Warum?“) und vermitteln ein Gefühl für das Ganze.

7. Voraussicht

Diese Eigenschaft hört sich ähnlich an wie Konzeptualisierung, aber nur oberflächlich betrachtet. Voraussicht meint die Fähigkeit zu erkennen, was kommen wird. Servant Leader ziehen die Lehren aus der Vergangenheit, verstehen die Gegenwart und sehen dadurch, was die Zukunft bringen wird.

8. Verantwortung

Bei Spears heißt dieser Punkt „Stewardship“. Servant Leader verhalten sich quasi wie ein Facility Managr , der sich um ein Gebäude kümmert – nur dass in diesem Fall das Gebäude das Unternehmen oder Team ist. Servant Leader nehmen ihre Verantwortung ernst und sorgen dafür, dass alles gut läuft.

9. Engagement für die Entwicklung von Menschen

Dienende Führungskräfte sind überzeugt, dass Menschen einen inneren Wert haben, der über ihren materiellen Beitrag als Arbeitnehmer*innen hinausgeht. Daher fühlen sie sich der Entwicklung jedes Einzelnen in der Organisation zutiefst verpflichtet.

10. Förderung der Gemeinschaft

Servant Leader schaffen ein starkes Wir-Gefühl am Arbeitsplatz. Sie erkennen den Wert der Gemeinschaft und tun alles, um eine gemeinsame Identität zu fördern. Dazu zählt auch, dass Mitarbeitende in Entscheidungen mit einbezogen werden. Damit schließt sich der Kreis zum Zuhören.


Was bringt Servant Leadership für Unternehmen?

Put Others First – das ist letztendlich das Prinzip, das sich hinter Servant Leadership verbirgt. Simon Sinek hat mit seinem Bestseller „Gute Chefs essen zuletzt“ die Ideen der dienenden Führung aufgriffen und in die moderne Arbeitswelt transferiert.

In einem Gespräch beim TV-Sender CBS erklärt Sinek, dass dieser Ansatz kein Selbstzweck ist, sondern Unternehmen stark davon profitieren: „When our leaders put our interests first, we work harder and they make more money.“

Empirische Untersuchungen zeigen, dass die nachhaltige Wertsteigerung eines Unternehmens in erster Linie von den Kundenbeziehungen und der Qualität der Produkte/Dienstleistungen und in zweiter Linie von der Zufriedenheit der Mitarbeiter*innen abhängt.

Kundentreue lässt sich nur durch engagierte Mitarbeitende bewerkstelligen. „Die Mitarbeiter sind der Schlüssel zur Kundenzufriedenheit und somit zur nachhaltigen Wertsteigerung der Unternehmung“, schreiben Hans Hinterhuber und Muhammad Saeed (2014, S. 182).

Wertsteigerung durch Servant Leadership (Quelle: Hinterhuber und Saeed, 2024, S. 182, eigene Bearbeitung)

Götz W. Werner, Gründer der Drogeriemarktkette dm, beschrieb diese Logik mit einem einfachen Szenario aus seinem Unternehmen. Eine Kunde besucht kurz vor Ladenschluss einen dm-markt in Pirmasens und sieht eine Verkäuferin:

„Für ihn ist unsere Kollegin die Chefin beziehungsweise die wichtigste Person von dm. Die Begegnung mit ihr, ihre Antwort, ihre Aufmerksamkeit entscheidet darüber, mit welchem Eindruck der Kunde unseren Markt verlässt. Ob er zufrieden nach Hause geht und wieder kommt, ob er uns weiterempfiehlt oder ob er von einem Besuch bei uns abrät.“

Götz W. Werner, 2014, S. 243

In den USA erkennen im mehr Unternehmen den Wert der dienenden Führung: Seit Jahren bekennen sich mehr als 30 Prozent der Unternehmen, die im Ranking der renommierten Fortune-Liste „100 Best Companies to Work For“ gelistet sind, zu Servant Leadership.

Literatur

Greenleaf, Robert (2002): Servant Leadership – A Journey into the Nature of Legitimate Power & Greatness. 25th Anniversary Edition, Paulist Press, New York.

Hesse, Hermann (1932): Die Morgenlandfahrt. 20. Auflage 2021, Suhrkamp, Berlin.

Hinterhuber, Hans; Saeed Muhammad Mohtsham (2014): Führungsleistung als Dienst am Unternehmen – Wie Servant Leadership den Unternehmenswert steigern kann. In: Schnorrenberg, Leonhard J. et al. (Hrsg.), Servant Leadership: Prinzipien dienender Führung in Unternehmen. 2., neu bearbeitete Auflage, Erich Schmidt Verlag, Berlin, S. 173-192.

Schnorrenberg, Leonhard J. (2014): Die unendliche Geschichte über die Kunst des Führens im Dienste der Menschen. In: Schnorrenberg, Leonhard J. et al. (Hrsg.), Servant Leadership: Prinzipien dienender Führung in Unternehmen. 2., neu bearbeitete Auflage, Erich Schmidt Verlag, Berlin, S. 19-50.

Stewart, Robert (2022): Servant Leadership – Discover the 10 Essential Skills To Unlock Your Team Performance And Become an Amazing Servant Leader. Independently published, Kindle Edition.

Werner, Götz W. (2014): Meine Kollege ist mein bester Kunde. In: Schnorrenberg, Leonhard J. et al. (Hrsg.), Servant Leadership: Prinzipien dienender Führung in Unternehmen. 2., neu bearbeitete Auflage, Erich Schmidt Verlag, Berlin, S. 241-251.

Titelbild: Die Statue vor dem Drakenstein Correctional Center (ehemals Victor Verster Prison) zwischen Paarl and Franschhoek erinnert an Mandelas Freilassung am 11. Februar 1990. (Foto: Martin Sturmer)