Die Polarisierung der Gesellschaft nimmt zu. Die hitzigen Diskussionen um Corona-Bestimmungen, Klimaschutz oder den Krieg in der Ukraine stellen Bruchlinien dar, die zu einseitigem Lagerdenken führen. Was können Politiker*innen tun, um die Brüche zu heilen und die soziale Harmonie zu fördern?
Antworten auf diese Frage bietet die südafrikanische Lebensphilosophie Ubuntu, die in Südafrika einen wesentlichen Beitrag zum versöhnlichen Übergang vom grausamen Apartheid-Regime zur demokratischen Regenbogennation geleistet hat.
Gemeinsam mit der Konflitkforscherin Daniela Molzbichler habe ich eben das Buch „Ubuntu: Mandela für Führungskräfte“ veröffentlicht. Darin befassen wir uns mit dem großen Potenzial der Philosophie zur Förderung von sozialer Harmonie.
Ubuntu ist Mandelas größtes Vermächtnis
Den roten Faden im Buch bildet das Leben und Wirken von Nelson Mandela (1918–2013). Mandela war eine herausragende Führungspersönlichkeit, die bereits zu Lebzeiten in allen Teilen der Welt höchstes Ansehen genoss. Sein Führungsverständnis war tief in Ubuntu verwurzelt. Für den früheren US-Präsidenten Barack Obama ist Ubuntu sogar Mandelas größtes Vermächtnis.
Was zeichnet die südafrikanische Lebensphilosophie nun aus? Ubuntu stellt die Verbundenheit aller Menschen in den Mittelpunkt. Am besten erfassbar wird sie durch den Leitsatz „Ich bin, weil wir sind“, der einen entscheidenden Kontrapunkt zur europäischen Tradition von „Cogito, ergo sum – Ich denke, also bin ich“ darstellt. Kernwerte wie Güte, Empathie und Respekt sorgen in Ubuntu dafür, dass das Gemeinwohl über individuelle Interessen gestellt wird.
Menschen können sich ändern
Allerdings war bei Mandela selbst lange Zeit nichts von diesen Führungsqualitäten zu erkennen. Der spätere Friedensnobelpreisträger, der ab 1952 in Johannesburg eine Anwaltskanzlei betrieb, wurde von seinen Wegbegleiter*innen als emotional, empfindlich und jähzornig beschrieben. Doch die weitere Biografie von Mandela zeigt eindrucksvoll, dass sich Menschen ändern können.
27 Jahre oder exakt 10.052 Tage im Gefängnis haben Nelson Mandela zu einer herausragenden politischen Führungspersönlichkeit reifen lassen. Nach seiner Freilassung war von Empfindlichkeit und Jähzornigkeit nichts mehr sehen. Durch seine Dialogbereitschaft, Güte und Bescheidenheit wurde Mandela zum Vorbild für Entscheidungsträger*innen rund um den Globus.
Mit Andersdenkenden zusammenarbeiten
In seiner Rolle als Staatspräsident besann sich Mandela auf Ubuntu. Er versuchte, alle Meinungen zu hören und Gegenpositionen zu verstehen. Seine Entscheidungen stellten oft den Konsens unterschiedlicher Sichtweisen dar.
Populistisches Schwarz-Weiß-Denken war ihm fremd. Schwierige Fragen wollte er nicht mit einem einfachen „Ja“ oder „Nein“ beantworten – seine Antwort lautet häufig „Sowohl – als auch“.
Die Zusammenarbeit mit Andersdenkenden war für Mandela der Schlüssel zum Miteinander: „Um mit einem Gegner Frieden zu schließen, muss man mit ihm zusammenarbeiten, und der Gegner wird dein Freund“, war Mandela überzeugt.
Bestes Beispiel dafür war der politische Transformationsprozess in Südafrika: Nachdem der ANC am 27. April 1994 die ersten demokratischen Wahlen in Südafrika mit absoluter Mehrheit gewonnen hatte, hätte Mandela eine Alleinregierung bilden können.
Er entschied sich jedoch für eine „Regierung der nationalen Einheit“, der auch Minister der zuvor regierenden „Nasionale Party“ sowie der „Inkatha Freedom Party“ (IFP) angehörten. Sein Amtsvorgänger Frederik Willem de Klerk wurde zweiter Vizepräsident, IFP-Vorsitzender Mangosuthu Buthelezi Innenminister.
Konfliktlösung mit Indaba
Ihre ganze Stärke entfaltet Ubuntu in der Lösung von Konflikten. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission, die von 1996 bis 1998 unter der Leitung des kürzlich verstorbenen Erzbischofs Desmond Tutu tagte, war ein Meilenstein für politische und gesellschaftliche Entwicklung des Landes.
Die Grundzüge der Kommission basierten auf dem traditionellen Streitschlichtungsverfahren Indaba, bei dem es in erster Linie um die Sicherstellung der sozialen Harmonie und nicht um die Bestrafung der Täter*innen geht. Dabei sind die Anerkennung der Schuld, das Zeigen von Reue, die Bitte um Vergebung und das Finden eines Ausgleichs die entscheidenden Schritte auf dem Weg zur Versöhnung.
Buchpräsentation am AAI
„Ubuntu: Mandela für Führungskräfte“ ist im Verlag Springer Gabler in Wiesbaden in als E-Book und gedruckte Ausgabe erschienen. Zielgruppe für das kurze, 50-seitige Buch sind Entscheidungsträger*innen in Unternehmen, Organisationen und Politik.
Die Buchpräsentation findet am 2. Juni 2022 um 10:00 Uhr am Afro-Asiatischen Institut (AAI) in Salzburg statt.